Bereits seit unendlichen Zeiten zieht die Erde ihre Bahn um die Sonne. Von ihr empfangen wir Wärme und Licht. Ebenso umkreist der Mond die Erde. Er sendet uns seine silbernen Strahlen und schenkt uns die Gezeiten. Around and around and around…
Einst wuchs hoch oben in den Bergen ein Kind auf. Sie spielte auf sattgrünen Wiesen und sprang über plätschernde Bäche. Bei jedem Atemzug durchströmte die klare Luft ihre Lunge. Eines Tages reifte sie schließlich zur jungen Frau heran, schnürte ihre Habe zu einem kleinen Bündel zusammen und sagte zu Vater und Mutter: „Ich möchte losziehen, um das Meer zu sehen.“ Denn während ihrer ganzen Jugend hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihren Körper in den schäumenden Fluten des Meeres zu baden und auf den Lippen das Salz des Ozeans zu schmecken.
Die junge Frau folgte dem vertrauten Weg hinab ins Tal, den sie schon so viele Male gegangen war. Doch heute hielt sie nicht in jenem kleinen Dorf, in dem sie immer ihre Milch verkauft hatte. Und sie hielt auch nicht an der Hütte, in der ihr bester Freund lebte. Sie ging weiter. Weiter als sie je an der Hand ihres Vaters gegangen war. Sie ging, weil sie ein Ziel hatte: Sie wollte ihren Körper in den schäumenden Fluten des Meeres baden und auf den Lippen das Salz des Ozeans schmecken.
Vielen Tieren und Menschen begegnete sie auf ihrem langen Weg. Oft wurde sie eingeladen, zu verweilen und sich ein wenig auszuruhen. Und manchmal wurde ihr auch davon abgeraten, weiter zu gehen. Der Weg zum Meer sei weit und beschwerlich. Aber sie ließ sich nicht beirren. Sie nahm die Gastfreundschaft dankbar an und folgte dann weiter dem Weg, den sie für sich gewählt hatte: weiter auf dem Weg, der sie zum Meer führen sollte.
Eines Tages, sie hatte schon viele Kilometer zurückgelegt und war daher sehr müde, kam sie an eine große Wegkreuzung. Der Weg, dem sie bisher gefolgt war, gabelte sich vor einem großen Gebirge in vier Pfade. Zwei der Pfade schienen links und zwei rechts um die Berge herumzuführen. Die junge Frau wusste nicht, welcher Weg sie ans Meer führen würde und so setzte sie sich mitten auf die Kreuzung um zu rasten. Sie öffnete ihr Bündel, nahm ein paar Kekse daraus hervor, schob sie sich in den Mund und spülte die letzten Krümel anschließend mit etwas Tschai.
Sie saß lange Zeit auf der Erde und konnte sich für keinen der vier Wege entscheiden, denn jeder schien ihr ungewiss. Eines Tages kamen Fremde an die Kreuzung und fragten die junge Frau, warum sie dort sitze.
„Ich bin unterwegs ans Meer“, gab sie Auskunft, „aber mein Weg endet hier. Nun weiß ich nicht, welche Richtung ich wählen soll.“
„Dann komm doch mit uns“, sagten die Fremden, „wir sind unterwegs in eine Stadt, die nur einige Stunden von hier entfernt ist“.
Aber die junge Frau wollte ans Meer, im warmen Sand sitzen und sich von der wilden Kraft der Wellen umschäumen lassen. Sie bedankte sich bei den Fremden für das Angebot und blieb weiter auf ihrer Wegkreuzung sitzen.
Wieder saß sie lange Zeit allein und konnte sich noch immer für keinen der Wege entscheiden. Viele Tage später kam ein einsamer Wanderer und setzte sich zu ihr. Lange Zeit saß er bei ihr und erzählte, was er alles erlebt hatte auf seiner Wanderschaft, wo er schon überall gewesen war, und was er alles erfahren hatte. Er aß mit der jungen Frau Kekse und trank mit ihr Tschai. Viele Male sahen sie die Sonne hinter den hohen Bergen versinken. Und irgendwann fragte er sie, ob sie nicht mit ihm kommen wolle. Er sei unterwegs zu einem Wald ganz in der Nähe, um dort zu jagen. Aber die Frau auf der Wegkreuzung sagte auch ihm, dass sie nicht in einen Wald, sondern ans Meer wolle.
Die Wochen vergingen und auf den Frühling folgte der Sommer. Auf den Sommer folgte der Herbst. Die Frau saß auf dem Platz zwischen den Wegen, sah den Gänsen nach, die übers Gebirge zogen und erfreute sich an den Wolken, die bunte Blüten der Phantasie an den Himmel malten.
Eines Morgens wurde sie von Fremden geweckt, die unterwegs zu Bauern waren. Sie fragten, ob sie nicht mitkommen wolle, um bei der Ernte zu helfen. Und weil die Frau schon so lange untätig dort gesessen hatte, entschied sie sich, dieses Mal mit den Fremden zu gehen. Sie kamen in ein kleines Dorf, und den ganzen Herbst half sie, die Ernte einzufahren. Es gefiel ihr gut bei den Bauern. Nur ihre Sehnsucht nach dem Meer blieb in ihr und wuchs und wuchs, während der Winter die Landschaft in stille weiße Träume verpackte. Darum packte sie an einem klaren Frühlingsmorgen ihr Bündel und sagte den freundlichen Bauern, dass sie sich wieder aufmachen wolle, um ans Meer zu ziehen.
Sie ging den Weg zurück, den sie mit den Bauern gekommen war, bis sie wieder an die große Kreuzung kam. Doch dort setzte sie sich ratlos nieder. „Wenn ich nur wüsste, welchen dieser Wege ich wählen soll, um ans Meer zu gelangen.“
Sehr lange saß sie an der Wegkreuzung, bis nach Wochen eine kleine Gruppe Pfadfinder auf die junge Frau traf. Sie wollten ihren Pfad abseits des Weges suchen und hinauf in das Gebirge steigen. Sie waren auf Abenteuer aus und versuchten die junge Frau zu überzeugten, sie zu begleiten. Sie sagten zu ihr: „Nur hier herumzusitzen, bringt dich doch auch nicht an dein Ziel. Vielleicht führt unser Pfad dich ja ans Meer. Wir werden es erst wissen, wenn wir ihn gegangen sind. Aber dann wir werden nicht zurückkehren, um dir davon zu berichten. Also begleite uns doch. Besser als hier zu versauern ist es alle Mal.“
Ob sie wirklich nicht zurückgekehrt wären, um ihr davon zu berichten, werden wir nie erfahren, denn die Worte der Pfadfinder verfehlten ihre Wirkung nicht und überzeugten die Frau. Gemeinsam stiegen sie durch zerklüftete Felsengärten, die jedem alleine vielleicht ein wenig beängstigend vorgekommen wären. Aber sie waren ja in einer Gruppe unterwegs und stimmten ein Lied an, dass die drohende Furcht in die Flucht schlug. Wo es nicht anders ging, querten sie dichtes Unterholz. Doch meist ließ sich ein Weg finden, der darum herumführte. Abfallende Grate überwanden sie, indem sie sich gegenseitig mit Kletterseilen absicherten. Denn auch wenn sie keine Furcht kannten, so vermieden sie doch jedes unkontrollierbare Risiko.
Höher und höher stiegen sie bei ihrer einsamen Wanderung. Nachts war es längst nicht mehr so warm wie unten an der großen Wegkreuzung. Daher machten sie es gemeinsam am Lagerfeuer bequem und kuschelten sich, wenn der Wind pfiff, ganz dicht aneinander, um der Kälte zu trotzen. Wenn einer glaubte, seine Kraft würde nicht mehr reichen, um weiterzugehen, sprachen die anderen ihm Mut zu und nahmen ihm einen Teil seiner Last ab. Auf keinem der Gipfel, hinter dem bereits ein weiterer auf sie wartete, verzagten sie, denn der Weg war ihr Ziel und sie hatten wieder ein gutes Stück zurückgelegt und während dessen neue Wunder der Natur gesehen.
Und dann endlich – die Frau hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt – stand sie ganz oben. Der Wind packte ihr langes Haar, zerwühlte es mit klammen Fingern und zog an ihrer Kleidung. Sie öffnete den Mund, um diese Gewalt in sich hineinströmen zu lassen. Der Klang ihres Atems wurde vom Wind davongetragen. Langsam und erwartungsvoll öffnete sie ihre Augen, um sich umzublicken:
Der Ausblick überwältigte sie. Tief unten entdeckte sie, ganz klein jetzt, die Wegkreuzung, auf der sie so lange gesessen hatte. Sie sah die vier Pfade, die sich dort unten verzweigten. Der eine führte in eine große Stadt, direkt auf den Marktplatz und noch darüber hinaus. Der andere schlängelte sich durch einen dichten Wald, nahe an einem kleinen Häuschen vorbei. Aber auch er endete dort nicht. Der dritte war ihr bekannt: Er wand sich in das Tal zu den Bauern, denen sie bei der Ernte geholfen hatte, kletterte dann über einige kleine Hügel und führte weiter in eine fruchtbare Ebene. Und der vierte traf auf ein kleines Dorf, zog durch dieses hindurch und setzte sich dahinter fort.
Die Frau stand auf dem Gipfel des Berges und zitterte vor Erregung. Die vier Wege trennten sich vor dem Gebirge, umringten es und näherten sich in einer weiten Ebene wieder einander an, um sich wiederzuvereinigen und ihre Reise vereint bis zum Meer fortzusetzen, dessen Wellen die Strahlen der Sonne reflektierten und so ein Glitzern an den Horizont zauberten. Die junge Frau stand hoch oben auf den Felsen, die vor ihr steil abbrachen und dort hinten jenseits der Ebene, verlor sich ihr suchender Blick in der Unendlichkeit des Meeres.
Endlich hatte sie ihr Ziel vor Augen und sie erkannte, dass jeder der Wege sie an ihr Ziel geführt hätte. Sie war dankbar dafür, dass die anderen sie mit auf diesen Pfad genommen hatten. Und wo sie jetzt darüber nachdachte, fühlte sie sich eigentlich auch schon als Teil der Gruppe. Sie hatten sich auf ihrer gemeinsamen Reise kennen gelernt und waren gute Freunde geworden. Und sie hatte auch erkannt, dass sie so unglaublich viel durch die gemeinsame Zeit gewonnen hat, ungeachtet der Tatsache, dass sie das Meer noch nicht erreicht hatten.
Aus diesem Grund richtete sie abends beim Lagerfeuer zwei Bitten an ihre abenteuerlichen Freunde: „Ich fühle mich in eurer Nähe so wohl und habe Freude am Reisen gefunden. Wollt ihr nicht gemeinsam mit mir zum Meer ziehen und mich dort in eure Gemeinschaft aufnehmen? Dann wären wir einander immer verbunden.“
„Und du könntest deinen Traum wahr werden lassen, deinen Körper in den schäumenden Fluten des Meeres zu baden und auf den Lippen das Salz des Ozeans zu schmecken.“, erwiderte eine der Pfadfinderinnen mit einem verschmitzten Lächeln.
„Nein. Also, ja. Aber wäre nicht der einzige Traum, der dann wahr werden würde, sondern…“
Weiter kam sie nicht. Die anderen hatten ihrer Bitte längst wortlos stattgegeben und schlossen sie nun fest in die Arme, während Glückstränen ihre Wangen hinabliefen. Es sollten nicht die letzten gewesen sein.
Und wie wäre es der Frau wohl ergangen, wenn sie nicht mit der Gruppe Pfadfinder gegangen wäre? Diese Geschichte steht auf einem anderen Blatt und wird ein anderes Mal erzählt werden (vgl. Roland Kübler et al., S. 31 ff.).
Sehr lange saß sie an der Wegkreuzung, bis nach Wochen eine Frau kam, die unterwegs war in ein kleines Dorf. Sie wolle dort ihre Waren verkaufen, erzählte sie und fragte die Frau, ob sie nicht Lust hätte, sie zu begleiten. Und weil diese wusste, dass sie allein zu keinem Entschluss kommen würde, ging sie mit der fremden Frau in das kleine Dorf. Es gefiel ihr gut dort. Sie half Hemden und Hosen nähen und später auf dem Markt verkaufen. Aber immer blieb in ihr die Sehnsucht nach dem Meer. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus. Wieder packte sie ihre Habseligkeiten zusammen, verabschiedete sich von der Frau und wanderte zurück an jene große Kreuzung.
Hier war ihr inzwischen alles schon so vertraut. Sie suchte sich wieder ihren alten Platz und machte es sich gemütlich. Dann saß sie dort, fast unbeweglich, eine lange, lange Zeit. Ihr Haar war inzwischen dünn und grau geworden. Ihr Rücken beugte sich immer mehr unter der Last der sich stetig wiederholenden Jahreszeiten. Noch immer wusste sie nicht weiter und konnte sich einfach nicht entscheiden, welchen dieser Wege sie denn nun wählen solle. Manchmal glaubte sie in stillen, schlaflosen, mondhellen Nächten ein leises, fernes Rauschen zu hören, als ob das Meer sie rufen würde. Und wenn der Nachtwind mit lauem Hauch von den Bergen strich, vermeinte sie sogar auf ihren Lippen einen Hauch von Salz schmecken zu können.
Es war eine solche Nacht, in der sie sich entschloss, einfach die Berge hinaufzusteigen. Die Wanderung war sehr beschwerlich. Durch beängstigend verwirrende Felsengärten, dichtes Unterholz und über steil abfallende Grate führte ihr Weg nach oben. Höher und höher stieg sie bei ihrer einsamen Wanderung. Nachts war es längst nicht mehr so warm wie unten an der großen Wegkreuzung. Sie fror und kauerte sich oft hilflos an den nackten, kalten Fels. Manchmal glaubte sie, ihre Kraft würde nicht mehr reichen, um weiterzugehen. Immer schwieriger fiel es ihr, sich die steilen Hänge empor zu quälen, nur um wieder festzustellen, dass hinter dem soeben erklommenen Gipfel bereits der nächste auf sie wartete.
Und dann endlich – sie hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt – stand sie ganz oben. Der Wind packte ihr langes, graues Haar, zerwühlte es mit klammen Fingern und riss an ihrer Kleidung. Sie öffnete den Mund, um diese Gewalt in sich hineinströmen zu lassen. Das Keuchen ihres Atems wurde vom Wind davongetragen. Langsam und zögerlich öffnete sie ihre Augen, um sich umzublicken:
Der Ausblick überwältigte sie. Tief unten entdeckte sie, ganz klein jetzt, die Wegkreuzung, auf der sie so lange gesessen hatte. Sie sah die vier Pfade, die sich dort unten verzweigten. Der eine führte in eine große Stadt, direkt auf den Marktplatz und noch darüber hinaus. Der andere schlängelte sich durch einen dichten Wald, nahe an einem kleinen Häuschen vorbei. Aber auch er endete dort nicht. Der dritte war ihr bekannt: Er wand sich in das Tal zu den Bauern, denen sie bei der Ernte geholfen hatte, kletterte dann über einige kleine Hügel und führte weiter in eine fruchtbare Ebene. Und der vierte traf auf jenes kleine Dorf, in dem sie Hemden und Hosen geschneidert hatte. Und auch dieser Weg zog durch das Dorf hindurch und setze sich dahinter fort.
Die alte Frau stand auf dem Gipfel des Berges und zitterte. Die vier Wege trennten sich vor dem Gebirge, umringten es und näherten sich in einer weiten Ebene wieder einander an, nur um sich wiederzuvereinigen und ihre Reise vereint bis zum Meer fortzusetzen, dessen Wellen die Strahlen der Sonne reflektierten und so ein Glitzern an den Horizont zauberten. Die alte Frau saß hoch oben auf den Felsen, die vor ihr steil abbrachen und dort hinten jenseits der Ebene, verlor sich ihr suchender Blick in der Unendlichkeit des Meeres.
Je länger sie hinab schaute, umso deutlicher glaubte sie die Schaumkronen der Gischt zu sehen. Sie meinte die tosende Kraft der Wellen zu spüren, die weit vor ihr in die zerfurchten Klippen schlugen und zersprangen. Aber sie konnte sie nicht hören, da sie zu weit von ihrem Ziel entfernt war. Hoch oben auf dem Gipfel stand sie und wusste, sie hatte nicht mehr die Kraft zurück an jene große Wegkreuzung zugehen, an der sie so lange gesessen hatte, um irgendeinen Weg zu wählen, der sie ans Meer bringen würde.
Sie hatte keinen dieser Wege gewählt. Sie war keinen Weg zu Ende gegangen. Erst hier, hoch oben auf den Felsen, erkannte sie, dass jeder dieser Wege ans Meer geführt hätte. Und plötzlich wusste sie: Niemals in ihrem Leben würde der salzig frische Atem grenzenloser Weite ihre Lippen benetzen. Und niemals in ihrem Leben würde sie das wild schäumende Wasser des Meeres auf ihrem Körper spüren.
Literaturverzeichnis:
Kristiane Allert-Wybranietz, Lucy Körner, Heinz Körner, Roland Kübler, Claude Steiner, Jürgen Stiller, Bruno Streibel (1983). Die Farben der Wirklichkeit. Stuttgart: Lucy Körner Verlag.